Helga Kromp-Kolb ist Österreichs wohl bekannteste und engagierteste Klimawissenschaftlerin. Seit mehr als 50 Jahren forscht und spricht sie über den Klimawandel. Im Laufe ihrer Karriere hat sie viele verschiedene Rollen gefüllt, zahlreichen Beiräten beigewohnt und Entscheidungsträger*innen beraten. Im Interview findet sie klare Worte zu den aktuellen Entwicklungen und zeigt auf, wo sie die Synergien zwischen Beratung und Wissenschaft sieht. Zusätzlich gibt sie jede Menge Tipps, die alle Menschen umsetzen können und ein Plus an Lebensqualität bedeuten.
Bild: Mitja Kobal
Marijke Janz: Ein herzliches Willkommen bei uns in der denkstatt. Seit Jahrzehnten leisten Sie einen unermüdlichen Einsatz und sprechen dabei mit vielen Menschen, auch mit Entscheidungsträger*innen. Wie beurteilen Sie die derzeitige Situation rund um den Klimawandel?
Helga Kromp-Kolb: Kürzlich ist eine Publikation dänischer Forschungskolleg*innen der University of Copenhagen über die Meereszirkulation erschienen. Bisher hielt man einen Zusammenbruch der Atlantischen Umwälzströmung im 21. Jahrhundert für unwahrscheinlich, aber die neuen Ergebnisse aus Dänemark zeigen, dass der Kipppunkt viel früher erreicht werden könnte – nämlich schon ab 2025. Derzeit sorgt diese Meeresströmung für das warme und milde Klima in Europa. Wenn sie ausfällt, oder nicht so weit nach Norden reicht, hätte das gravierende und unumkehrbare Folgen für die Temperatur- und Niederschlagsmuster weit über Europa hinaus. In Europa würden dadurch die Temperaturen innerhalb weniger Jahre drastisch fallen und die Niederschlagstätigkeit zurückgehen, während die Wahrscheinlichkeit von heftigen Winden zunimmt. Der Meeresspiegel an der Ostküste der USA könnte deutlich steigen. Frühere Forschungsergebnisse, basierend auf unterschiedlichen Datensätzen und Methoden, haben bereits Hinweise auf eine Verlangsamung der Meeresströmung gefunden. Die neuen Ergebnisse sind daher sehr ernst zu nehmen. Vielleicht sind das jetzt die Nachrichten, die dazu führen, dass man endlich etwas unternimmt?
International gesehen gibt es einzelne Länder, die durchaus ernsthafte Maßnahmen ergriffen haben und ihre eigenen Emissionen reduzieren. Aber im Großen und Ganzen passiert viel zu wenig und viel zu langsam. Global steigen die Treibhausgasemissionen nach wie vor. Österreich zählt ganz klar zu den Nachzüglern, vor allem gemessen an dem, was Österreich eigentlich tun müsste und tun könnte.
Was wären denn die wichtigen Hebel und haben Sie das Gefühl, dass die Dringlichkeit dort schon angekommen ist?
Die Politik ist hier definitiv gefordert. Aber die Frage ist, ob manche der regierenden Politiker*innen überhaupt ein Interesse an einer Lösung haben. Klimaschutz ist ihnen offenbar nicht wichtig genug gegenüber anderen Interessen, die im Vordergrund stehen, wie zum Beispiel die nächsten Wahlen. Schauen wir in die Politik und ihre Themen, sehen wir sehr viel Populismus, und mit Populismus kann man keine langfristigen Probleme lösen.
Die Klimaaktivist*innen haben schon recht damit, dass auf der Straße Druck erzeugt werden muss. Die Frage ist, wie das genau geschehen muss. Eigentlich müssen wir in noch breiteren Bevölkerungsschichten das Bewusstsein aufbauen, dass einerseits jede*r von uns von den Klimawandelauswirkungen betroffen sein wird, dass sich aber andererseits unser aller Lebensqualität wesentlich verbessern könnte, wenn man Klimaschutz ernsthaft und vernünftig betreibt. Mehr Gesundheit, weniger Umweltlärm oder mehr Sicherheit auf der Straße – das alles und mehr könnte zu unserer Lebensqualität wesentlich beitragen. Ich glaube, dass das bei den meisten Menschen noch nicht angekommen ist. Stattdessen hört die Gesellschaft: „Klimaschutz nimmt dir dein Auto und dein Schnitzel weg.“ Dieses Narrativ ist durchaus üblich, auch in der Politik, und es schafft keine Bereitschaft zu Veränderung.
Das heißt, wir sprechen hier eigentlich von vernünftigem Handeln. Nun ist der Menschen von Natur aus nicht unbedingt vernünftig und handelt nicht vorausschauend, sondern wird durch andere Aspekte in der Entscheidungsfindung beeinflusst. Aber es gibt ja durchaus Menschen, die einen Lebenswandel für sich eingeleitet und all diese Vorteile für sich erkannt haben. Was macht hier den Unterschied?
Unser Gehirn ist vornehmlich darauf ausgerichtet, unmittelbare Gefahren und Chancen zu erkennen – evolutionär gesehen eine Überlebensnotwendigkeit. Aufgrund des technologischen Fortschritts, der uns ermöglicht, unsere Lebensgrundlagen mittel- bis langfristig zu zerstören, genügt das aber nicht mehr. Um die breite Bevölkerung zu erreichen, geht es jetzt eigentlich darum, dass Veränderung für die Menschen einfach und attraktiv sein muss. Der Großteil der Gesellschaft möchte nicht ständig Entscheidungen für Produkte oder Dienstleistungen treffen, die mehr kosten, unbequemer sind und aus dem Gewohnten herausfallen. Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Es ist psychisch unheimlich aufwendig sich gegen den Mainstream aus Konsum und Geiz zu stellen. Schließlich wurde uns über Jahrzehnte hinweg eingeredet, dass das wichtig und richtig ist.
Neulich hat ein bekannter Skirennfahrer in einer Diskussion gesagt, dass er sich wünsche, in den Supermarkt gehen zu können und sicher zu sein, dass er dort nur klimafreundliche und nachhaltige Produkte vorfindet. Und darum geht es. Es muss für die Menschen leicht, bequem und preiswert sein. Ich bin davon überzeugt, dass das möglich ist. Das gelingt zum Teil über finanzielle Eingriffe oder über Preise. Es muss aber auch über Verbote und Gebote geschehen. Ich sehe keinen Grund, warum sich das nicht umsetzen ließe. Es hängt vor allem von dem Willen der Politik ab und von einer überzeugenden Argumentation gegenüber den Wähler*innen.
Geht es also darum, diese große Komplexität bei Entscheidungsfindungen für Nachhaltigkeit zu reduzieren?
Vielleicht in gewisser Weise. Einerseits braucht es entsprechende Nachweise dafür, dass etwas nachhaltig ist. Andererseits sollten manche Sachen einfach gar nicht vorhanden sein. Elektrogeräte der Effizienzklasse B, C, und mehr – was haben die noch in den Geschäften zu suchen? Ich glaube auch nicht, dass irgendwer wirklich zehn verschiedene Joghurtsorten braucht. Ein Überangebot, z. B. durch zwanzig verschiedene Schokoladevarianten, hat für mich nichts mehr mit Nachhaltigkeit zutun. Das gilt auch dann, wenn das Unternehmen dahinter eigentlich sehr nachhaltig ausgerichtet ist. Aber wenn wir wirklich nachhaltig leben wollen, wird es Suffizienz brauchen, also irgendeine Art von Genügsamkeit. Was im Übrigen dasselbe Schokoladenunternehmen auch vermittelt: Iss nicht viel von unserer Schokolade, aber genieße jeden Bissen.
Hinter all dem steht die Frage: Was ist mir etwas wert? Das bezieht sich nicht auf den Preis, sondern auf echte Werte wie Freundschaft und Familie, sich eingebunden und unterstützt zu fühlen, mitzufühlen, gesund zu sein und so weiter. Deswegen ist es wichtig, dass möglichst viele Menschen umdenken. Wir werden ganz stark von unserem Umfeld beeinflusst. Ein Beispiel: Wenn alle um mich herum schon in Vietnam, auf Kuba oder am Südpol waren, dann muss ich auch dorthin in den Urlaub fahren. Und das, obwohl ich mich für das Land vielleicht überhaupt nicht interessiere. Wahrscheinlich würde ich mich irgendwo in Österreich an einem See viel wohler fühlen. Aber wenn alle anderen schon in Vietnam waren, muss ich eben auch dort gewesen sein. Diese künstlich befeuerte Reiselust können wir uns nicht mehr leisten. Wir werden nie davon weggekommen, dass das Umfeld uns beeinflusst. Deswegen müssen die Umfelder nachhaltiger werden.
Das heißt, wir haben einen großen gesellschaftlichen Wandel vor uns, an dem viele einzelne Personen teilhaben müssen. Wie kann das nun unterstützt werden und gelingen?
Es gibt ein ganz tolles Beispiel in Österreich, nämlich den Klimarat der Bürgerinnen und Bürger. Das sind circa neunzig Personen, die mit ihrer Herkunft, ihren Interessen, dem Beruf und so weiter unsere Bevölkerung repräsentieren. All diese Menschen hatten davor zu einem Großteil nichts mit dem Thema Klima oder Nachhaltigkeit zu tun. Nach nur sechs Wochenenden mit Informationen und Diskussionen, haben sie rund hundert gute Vorschläge für die Politik erarbeitet und diese fast alle einstimmig beschlossen. Darunter finden sich Maßnahmen, wie die Verabschiedung eines Klimaschutzgesetzes, CO2-Preise für mehr Kostenwahrheit oder für einen klimafreundlichen Umgang mit Lebensmitteln. Das zeigt eindeutig: Man kann die österreichische Bevölkerung für Klimaschutz begeistern. Man muss die Menschen informieren, mit ihnen reden und sie einladen mitzudenken und mitzumachen.
In weiterer Folge müssen sie aber auch von politischer Seite aus ernstgenommen werden. Letzteres ist bei diesem schönen Beispiel leider nicht passiert, da eine der Regierungsparteien auf die Vorschläge bisher nicht eingegangen ist. Das betrachte ich als Zeichen eines äußerst fragwürdigen Demokratieverständnisses. Nichtsdestotrotz bin ich sehr zuversichtlich, dass man die Bevölkerung ziemlich rasch gewinnen könnte, wenn man es versuchen würde.
Wen brauchen wir dafür? Ist es nur die Politik, die ja auch von der Bevölkerung gewählt wird?
Ja, das ist natürlich ein Henne-Ei-Problem. Aber wir sollten auch die Medien nicht aus der Verantwortung nehmen, und da ist noch viel Potenzial, würde ich sagen. Die Medienlandschaft konfrontiert uns mit Wechselbädern. Wir sehen eine gute Berichterstattung über das Klima und neben dem Artikel ist die Annonce für einen Billigflug nach London für ein Wochenende. Das passt nicht zusammen. Hier ist mehr Medienverantwortung gefragt.
Neben den Medien müssen wir uns außerdem das ganze Bildungssystem anschauen. Auch die Universitäten sind keineswegs so gestaltet, wie sie es sein sollten. Zumindest zeigt sich an den Universitäten jetzt mehr Bewegung, auch wenn es ein ungeheures Beharrungsvermögen gibt. Im schulischen Bildungssystem tut sich leider sehr wenig. Wir unterrichten hier noch immer wie vor hundert Jahren. Natürlich redet man über Nachhaltigkeit, und betont die Wichtigkeit. Es kommt aber nicht primär darauf an, ob die Schüler*innen aufzählen können, wo sich die Temperatur wie verändern wird oder wie viele Arten schon ausgestorben sind. Junge Leute müssen sich die Fähigkeiten aneignen, systemisch zu denken, selbst zu urteilen und kreative Lösungen zu finden. Das muss gefördert werden und dazu muss der Unterricht anders gestaltet werden. Zusätzlich müssen wir ihnen zeigen, was sie als Kinder oder Jugendliche jetzt schon machen können.
Ich glaube, dass Greta Thunberg mit den Fridays for Future in dem Zusammenhang wirklich Großartiges geleistet hat, wahrscheinlich ohne es zu beabsichtigen. Aber für die Demokratie ist das ein unheimlich wichtiger Prozess, der hier losgetreten wurde. Es hat die Jugend ermächtigt, etwas zu tun. Sie können zeigen, dass sie etwas wollen, dass sie Sorgen, Wünsche und Ziele haben und all das an die Politik richten. Völlig unabhängig von der Klimaproblematik, würde ich es für absolut wichtig halten, dass die Politik auf diese Wünsche und Forderungen reagiert. Das würde zur Stärkung der Demokratie beitragen. Robert Menasse hat kürzlich gesagt: „Es kann keine Demokratie von Idioten geben.“, und genau darum geht es hier. Diese zarten Sprösslinge einer lebendigen Demokratie aufgreifen und hegen – da haben wir noch viel zu tun.
Trotz der herrschenden Stagnation gibt es wichtige Veränderungen, wie die Fridays for Future-Bewegung zeigt. Wenn wir jetzt mal zurückblicken in die Richtung der letzten 3 Jahrzehnte: Was hat sich aus Ihrer Sicht denn noch verändert?
Eine Sache hat sich definitiv verändert: Ich glaube nicht, dass es irgendjemanden in Österreich gibt, der vom Klimawandel noch nichts gehört hat. Ich glaube auch, dass der Großteil der Bevölkerung der Meinung ist, dass man etwas tun muss. Ich denke aber, dass nur der kleinere Teil wirklich verstanden hat, dass es nicht nur darum geht, dass es etwas wärmer wird, und dass wir nicht so weitermachen können wie bisher. Auch nicht, dass wir entweder in eine Katastrophe hineinlaufen, und das möglicherweise schon sehr bald, wie eingangs gesagt, oder eben, dass wir unser Schicksal selber in die Hand nehmen und die Zukunft gestalten können. Damit könnten wir unserer Jugend wirklich eine gute Zukunft ermöglichen. Und sogar eine bessere als das Leben, das wir jetzt führen. Steigende Lebensqualität bei sinkendem Lebensstandard. Dieses Umdenken müssen wir schaffen – weg von dem gewohnten Begriff Lebensstandard hin zur Lebensqualität. Da stehen wir im allgemeinen Verständnis noch ganz am Anfang.
Es ist mir schon bewusst, dass Lebensqualität etwas sehr Individuelles ist. Aber ich glaube, es ist nicht so individuell, dass man sich nicht auf staatlicher oder europäischer Ebene darüber verständigen könnte. Bis zu einem gewissen Grad hat man das mit den nachhaltigen Entwicklungszielen in der UN versucht. Die Sustainable Development Goals haben mehr mit Lebensqualität als mit Lebensstandard zu tun. Sie funktionieren auch nur, wenn wir alle 17 gleichermaßen verfolgen. Leider zeigen die jüngsten Berichte, dass wir uns davon entfernen, statt darauf zuzubewegen. Aber wir haben zumindest eine gemeinsame, globale Vision, und das ist schon mehr, als es in der Vergangenheit gab.
Der Titel ihres neuen Buches lautet „Für Pessimismus ist es zu spät – Wir sind Teil der Lösung“. Wie können wir Pessimismus vorbeugen?
Pessimismus darf gar nicht erst einsetzen. Denn Pessimismus lähmt. Eine Haltung nach dem Motto: „Es ist sowieso schon egal. Dann kann ich das Leben jetzt noch genießen.“, hilft uns nicht. Auch die Ohren zu verschließen oder in Depression zu verfallen, wie es bereits bei viel zu vielen Jugendlichen der Fall ist, sollte gar nicht erst geschehen. Die gute Nachricht ist: Pessimismus kann man aufhalten, indem man sich die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten vor Augen führt und da sind zwei Aspekte ausschlaggebend.
Erstens, und ernstzunehmende Literatur zeigt das deutlich: Selbst, wenn man eine Katastrophe für unausweichlich hält, kann man gestalten, indem man Vorsorge trifft. Und dabei geht es wieder um die Frage, was für mich im Leben wirklich wertvoll ist. Wenn man sich darauf vorbereitet, dass man sich das bewahrt, was einem tatsächlich etwas bedeutet, wie Familie oder Freundschaften, und die eigene Energie in stabile Bindungen investiert, dann ist viel geschafft.
Zweitens: Wovon kann ich mich jetzt schon trennen? Als Gesellschaft sollten wir uns z. B. von Kernkraftwerken trennen, denn in Krisen sind sie eine Gefahr. Wir werden uns von Küstenstädten trennen müssen, weil der Meeresspiegel steigen wird. Übertragen auf den privaten Bereich kann ich mich selbst fragen, was früher mit wenig Aufwand funktioniert hat. Ohne Elektrizität, sondern mit Muskelkraft. Das ist zum Beispiel das Fahrrad, der Leiterwagen, der Dosenöffner oder die Zahnbürste. Auch das Buch oder die Kerze, um einen gemütlichen Abend zu verbringen. Es kann sein, dass wir all das wieder brauchen werden.
Das alles sind übrigens genau dieselben Maßnahmen, die wir treffen müssten, um Klimaschutz zu erreichen. Das ist das Schöne und Interessante an der Sache. Es geht um Genügsamkeit. Viele ganz kleine Schritte helfen uns, das Prinzip der Suffizienz zu verstehen und zu verinnerlichen, dass es ein Zuwachs an Lebensqualität bedeutet. Solange die Politik ihre Entscheidungen weder am Gemeinwohl ausrichtet noch die Probleme im Kern angeht, brauchen wir die individuelle Ebene, um zu signalisieren, dass wir als Gesellschaft die Veränderung wollen. Sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik.
Nun haben wir viel über den privaten Bereich und die Lebensführung gesprochen. Im Job ist der Mensch in einem ganz anderen Kontext und System eingebunden. Was würden Sie sagen: Welche Rolle können und müssen die Menschen hier einnehmen?
Menschen können in ihrem beruflichen Umfeld viel machen. Es hängt ein wenig davon ab, wo sie sich in der Hierarchie befinden. Aber Ideen äußern, Fragen stellen, konstruktive Kritik anbringen… das ist für alle Mitarbeitende möglich. Wer selbst zur Entscheidungsebene gehört, kann natürlich viel mehr tun. Da gibt es wunderschöne Beispiele, wie etwa das aus den USA: Der Besitzer einer kleinen Designerfirma wollte die Treibhausgasemissionen in seinem Betrieb reduzieren und sich von fossilen Energieträgern verabschieden. Er hat das Projekt mit einer guten Intention gestartet und sich für eine Fotovoltaikanlage entschieden. Aber die Dachfläche reichte nicht aus, um den Energiebedarf zu decken. Er wollte schon aufgeben, als ihm jemand geraten hat, zuerst Energie zu sparen, und dann umzustellen. Er hat seine ganze Belegschaft versammelt, das Ziel „Weg von Fossil“ klar formuliert und ein gemeinsames Motto ins Leben gerufen: Wir dürfen nicht versagen. Mit dem Motto hat er innerhalb von 15 Monaten zwei Drittel der Energie eingespart, z. B. durch die Optimierung von Fahrwegen, energiesparsamen Bürogeräten, und einen größeren Gestaltungsspielraum der Mitarbeitenden. Am Ende reichte die Dachfläche locker. Er hat nicht nur Energie und Geld gespart, die Firma ist produktiver geworden und hat mehr Kund*innen gewonnen. Die Zufriedenheit der Mitarbeitenden hat sich in dem ganzen Prozess verbessert und das hat sich wiederum auf die Kund*innen übertragen. Die Kettenreaktionen reichten bis in die Lieferkette hinein. Solche Beispiele zeigen wunderbar, dass man als Wirtschaftstreibende extrem viel machen kann. Es gibt so viele Synergien, die uns im ersten Moment vielleicht gar nicht bewusst sind.
Natürlich passieren auch Fehlentscheidungen. Aber auch das halte ich für wichtig anzuerkennen. Wir müssen wieder mehr experimentieren dürfen und eine neue Fehlerkultur etablieren. Uns stehen ganz viele Wege und Möglichkeiten offen. Das heißt, wir müssen probieren dürfen und Fehler gehören zu einem Lernprozess dazu. Das ist übrigens auch ein Thema in der Bildung und in der Politik. Wenn jemand ununterbrochen Angst haben muss, einen Fehler zu machen, dann kommen wir nicht weiter. Ideen mit Leuten diskutieren, Lösungen ausarbeiten und es dann einfach mal versuchen – davon brauchen wir mehr.
Jetzt treffen wir in der Nachhaltigkeitsberatung auf viele unterschiedliche Unternehmen. Manche sind schon weiter fortgeschritten in der Transition. Andere haben einzelne Nachhaltigkeitsbeauftragte oder ESG-Manager*innen, die hochmotiviert sind, aber immer wieder gegen Wände laufen. Welche Argumente und Handlungen überzeugen aus Ihrer Erfahrung und was würden Sie diesen Menschen raten?
Gute Beispiele wirken und überzeugen am besten. Man kann mit dem Management beispielsweise eine andere Firma besuchen, die sich schon erfolgreich auf den Weg gemacht hat und die Ergebnisse für sich sprechen lassen. Außerdem glaube ich, dass es hilfreich wäre, die Nachhaltigkeitsbeauftragten verschiedener Firmen näher zusammen zu bringen, damit sie voneinander lernen können. Der Austausch ist hier essenziell: Was ist mir gelungen oder nicht gelungen? Was war schwierig? Wo haben wir Fehler gemacht, die du vermeiden kannst? Welche Argumente haben gezogen? Das wäre unheimlich wichtig. Genauso halte ich es für wichtig, dass es einen Club der Verwaltungsbeamten gibt. Vielleicht sogar für verschiedene Ebenen. Dann würden die Ministerien tatsächlich miteinander reden und im Idealfall an einem Strick ziehen – auf informeller Ebene initiiert.
Wir müssen Begegnungsräume schaffen, wo Menschen sich austauschen und Informationen miteinander teilen. Das halte ich für wahnsinnig wirkungsvoll. Die Allianz nachhaltiger Universitäten, die wir vor vielen Jahren gegründet haben, funktioniert nach diesem Prinzip. Das ist ein Expert*innengremium, das aus Nachhaltigkeitsinteressierten vieler Universitäten besteht. Im Austausch hören wir voneinander, was die einzelnen Universitäten schon tun, was alles geht und was nicht funktioniert. Diese Informationen machen es allen leichter. Das Argument, „Wenn wir jetzt nicht schnell sind, ziehen die anderen an uns vorbei.“ funktioniert immer, erstaunlicherweise. Am Ende geht es der Führungsebene oft gar nicht so sehr darum, dass man es tut, sondern, dass man der bzw. die Erste ist.
Ist Nachhaltigkeit dann doch wieder eine Frage des Wettbewerbs?
Wenn Wettbewerb ein Incentive für einen guten Zweck ist, dann soll es so sein. Ich bin aber nicht dafür, dass wir Wettbewerb generell fördern. Ich glaube, wir haben schon zu viel Wettbewerb auf dieser Welt. In den letzten Jahrzehnten wurde immer wieder gepredigt, dass Wettbewerb Innovation beflügelt und Wettbewerb die Mutter des Fortschritts ist, aber das glaube ich nicht.
Was treibt uns dann zum Fortschritt an?
Ich glaube, Fortschritt entsteht durch Kreativität, und die wird sehr stark durch das Miteinander angeregt. Durch das Erkennen und Lösen von Problemen. Wir produzieren ja insbesondere im EDV-Bereich Lösungen für noch nicht-vorhandene Probleme. Das halte ich für absurd. Wir haben doch so viele gravierende Probleme auf der Welt, die nicht gelöst sind. Widmen wir uns doch denen, anstatt ein Werkzeug zu entwickeln, und dann zu überlegen, wo wir es anwenden können. Sonst muss man den Leuten in weiterer Folge das Problem einreden, anstatt die wirklichen Herausforderungen unserer Zeit zu lösen. Das geht in die falsche Richtung und ich würde mir wünschen, dass Unternehmen erkennen, dass sie hier eine andere Rolle einnehmen können.
Nun spielt in solchen Change Prozessen in Unternehmen ja auch die Nachhaltigkeitsberatung eine Rolle. Wir bei denkstatt arbeiten wissenschaftlich-fundiert und nach klaren Prinzipien. Wie beurteilen Sie die Rolle der Nachhaltigkeitsberatung und welche Erwartungen haben sie an Beratungsunternehmen?
Die Stärke einer Nachhaltigkeitsberatung, wie der denkstatt, liegt darin, dass sie sehr nahe an der Praxis ist und an den tatsächlichen Problemen arbeitet, wo die Wissenschaft oft zu weit weg ist. Der Nachteil ist, dass die Beratung nicht immer die Kraft aufbringen kann, das Notwendige zu fordern und sich daher mit weniger zufriedengeben muss. Denn sie muss sich finanziell halten. Schließlich trägt sie auch eine Verantwortung für die eigenen Mitarbeitenden. Das ist eine schwierige Rolle, die wir auch aus der Wissenschaft kennen, z. B., wenn Forschungsgelder oder Forschungsaufträge aus der Industrie kommen. Die Wahrung der Unabhängigkeit ist hier durchaus herausfordernd und einen ähnlichen Spagat muss ein Beratungsunternehmen leisten. Das lässt sich nur schwer lösen, aber man sollte sich dieser Dynamik bewusst sein.
Ein anderer Punkt ist die Beratungsqualität. In einer großen Beratungsfirma wie denkstatt kann man annehmen, dass Maßnahmen zur Qualitätssicherung vorhanden sind. Aber Nachhaltigkeitsberatung kann so ziemlich jede*r anbieten und es gibt hier meiner Meinung nach zu wenig Kontrolle. Leider habe ich auch schon Beratungsergebnisse wie Carbon Footprint Berechnungen von so manch anderer Firma gesehen, die einfach falsch sind. Auch bei Beratungen direkt aus der Wissenschaft bin ich skeptisch. Personen, die Unternehmen in Nachhaltigkeitsfragen beraten, sollten sich der Verantwortung jedenfalls bewusst sein, die damit einhergeht.
Wie können Beratungsunternehmen denn mögliche Interessenskonflikte überwinden und gleichzeitig die Qualität der Beratung sichern? Was können wir hier von der Wissenschaft lernen und wo sehen Sie Berührungspunkte?
Transparenz und Verantwortung sind wichtige Schlüsselbegriffe. Wenn Beratungsergebnisse öffentlich geteilt werden, sind sie überprüfbar. Wenn sich dabei herausstellt, dass die Methodik oder die Parameter nicht mehr dem Stand der Wissenschaft entsprechen oder unsauber gearbeitet wurde, müssten die Berater*innen die Verantwortung für Fehlentscheidungen übernehmen. Das ist in der Praxis natürlich schwierig zu handhaben. Eigentlich bräuchten wir interdisziplinär besetzte Gremien oder Beiräte, die unabhängig arbeiten und überprüfen, ob Lösungen aus der Beratung den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen standhalten. Man könnte das auch institutionalisieren, indem Beratungsfirmen ihre Beratungsergebnisse bei einem regelmäßig stattfindenden Event vorstellen und diese durch Kolleg*innen und Wissenschaftler*innen konstruktiv diskutiert werden. Wichtig wäre, dass eine wohlwollende Atmosphäre entsteht, in der Kritik ausdrücklich erwünscht ist. Da sind wir wieder beim Thema Lernen und Fehlerkultur.
So ein Format hätte auch den großen Vorteil, dass die Wissenschaft mehr Informationen erhält, wo die wirklichen Probleme liegen. Aktuell wird dort geforscht, wo es gerade interessant ist, wo man leicht etwas publizieren kann oder wo es Geld gibt. Die Forschungsfelder decken sich womöglich nicht mit den wahren Problemen. Hier sehe ich für die Zukunft großes Potenzial und Beratungsunternehmen können wichtige Beiträge liefern.
Das bringt mich zu einem weiteren Punkt: Die Bedeutung der Beiträge von Beratungsfirmen wird derzeit noch unterschätzt. Die Ideen und so dringend benötigten Lösungen kommen oft aus der Praxis und nicht aus der Theorie. Wissenschaftliche Methoden und valide Tools sind wichtig. Wir brauchen die Theorie auch in Folge, um die praktischen Ergebnisse zu untermauern und verallgemeinerbar zu machen. Aber wenn die Wissenschaft die Probleme nicht wahrnimmt, kann sie auch nicht daran arbeiten und sich einbringen. Dann fehlt der wissenschaftliche Diskurs, denn nur publizierte Ergebnisse werden wissenschaftlich diskutiert. Da birgt die Nachhaltigkeitsberatung einen ungeheuren Schatz, der für die Wissenschaft bislang nicht verfügbar ist. Dieser Schatz müsste bearbeitet werden, z. B. in Form von Diplomarbeiten. Man könnte prüfen, wie Lösungen verallgemeinerbar und für andere nutzbar gemacht werden können. Hier müssten die Beratung und Wissenschaft in Zukunft noch viel näher zusammenrücken.
Bleiben wir gleich bei der Zukunft. Jetzt ist die Neuigkeit zur Atlantikzirkulation ziemlich eingeschlagen und unterstreicht die Dringlichkeit. Worin liegen Ihrer Meinung nach jetzt die wichtigen Hebel, kurz- und mittelfristig? Was müssen wir tun und was ist realistisch?
Wir alle müssen die Emissionen jetzt wirklich drastisch senken. Ich glaube, wir haben nicht mehr die Zeit, uns nur auf die wichtigen Hebel zu konzentrieren. Wir müssen jetzt alle verfügbaren Hebel in Bewegung setzen und zum Glück gibt es ja nicht nur eine Person, die die Hebel in der Hand hält. Die Hebel sind ja sehr breit gestreut und ich denke auf allen Ebenen und in allen Bereichen müssen wir sie umlegen. Die Vorschläge und Maßnahmen liegen ja alle am Tisch. E-Fuels, Kernenergie und sonstige Scheinlösungen sind einfach veraltet. Darüber brauchen wir nicht mehr diskutieren. Wir müssen jetzt auf den Notknopf drücken und brauchen alle zukunftsfähigen Beiträge, die uns dabei helfen, die Emissionen zu reduzieren.
Nun gibt es ja auch die Menschen, die sehr engagiert sind und das Problem verstanden haben. Für viele ist die Trägheit des Systems jedoch schwer auszuhalten. Manche, gerade Jüngere, haben vielleicht sogar eine dystopische Vorstellung über das Leben in der Zukunft. Was können sie diesen Menschen raten und mitgeben?
Die Zukunft ist immer gestaltbar. Im Kleinen kann sie jeder für sich gestalten, aber der große Pfad ergibt sich aus gesellschaftlichem Wollen. Wenn viele Einzelne in eine bestimmte Richtung ziehen, verändert das den gesamten Pfad. So wie beim Wählen. Obwohl die einzelne Stimme wenig aussagt, kommt das Wahlergebnis durch die Summe der einzelnen Stimmen zustande. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass es auch im Sozialen Kipppunkte gibt, die, nachdem sich eine Gesellschaft auf etwas verständigt hat und an einem Strang zieht, von selber Wirkung entfalten können.
Es gibt viele gute Beispiele dafür, dass Menschen sehr viel bewirken und etwas lostreten können. Gandhi hat als Einzelner angefangen und Indien letztendlich von der Kolonialherrschaft befreit. Solche Bewegungen sind ein Riesenunterfangen und geschehen nicht von heute auf morgen. Aber wir stehen bei der Klimabewegung ja auch nicht mehr am Anfang. Wir alle können im eigenen Wirkungsfeld zu dieser Bewegung beitragen. Man kann demonstrieren gehen oder Briefe an Zeitungen oder Politiker*innen schreiben. Aus meiner Sicht ist das ganze Spektrum des politischen Aktivismus gefragt. Auch im Beruf können wir uns einbringen und Entscheidungen treffen. Es gibt hier zwei Aufgaben, die durchaus einen Spagat erfordern. Einerseits müssen wir innerhalb des Systems so viel wie möglich Richtung Nachhaltigkeit umsetzen. Andererseits müssen wir daran arbeiten, dass sich das System und seine Rahmenbedingungen verändern, sodass viel mehr möglich wird. Beides muss man gleichzeitig verfolgen.
Eines ist mir in dem Zusammenhang noch wichtig, und das habe ich erst spät gelernt: Wenn jemand etwas Gutes tut, konterkariert er bzw. sie das möglicherweise mit dem, was er bzw. sie nicht sein lässt. Wenn ich als Einzelhandelskette viel für Nachhaltigkeit tue und dann Heizstrahler für die Terrasse bewerbe und verkaufe, ist das kontraproduktiv und sollte nicht passieren – auch nicht bei einem Discounter. Gute Beiträge reichen nicht aus. Wir müssen vor allem das Schlechte weglassen. Und auch da können alle beitragen und die Veränderung selbst vorleben. Denn Veränderung fordern, ohne sich selbst zu verändern, ist unglaubwürdig. Das alles gilt für das Individuum, für Firmen, und letzten Endes auch für Staaten. Österreich muss das tun, was möglich ist, und gleichzeitig dazu beitragen, dass sich die EU bewegt oder sogar globale Bewegungen entstehen.
Führt man sich das vor Augen, wird klar, dass unheimlich viel möglich ist. Man kann sich selbst fragen, wo noch Potenziale sind, Schlechtes wegzulassen, wo man zum Guten beitragen und sich engagieren kann. Ich kann nur jede Person dazu ermutigen, die eigenen Handlungsfelder zu entdecken und sich mit anderen zusammenzutun, im Privaten und im Beruf. Da sind wir wieder bei den Hebeln, die wir alle bedienen können.
Vielen herzlichen Dank für das Interview.
Ich danke auch.